Nach dem Ende der Ampel haben deren Politiker kurz vor Toresschluss noch ein Wahlkampfgeschenk verteilt. Die Hausärzte bekommen die von ihnen so lange ersehnte „Entbudgetierung“. Doch leider gibt es nicht wenige Hinweise darauf, dass es sich dabei um eine trickreiche Mogelpackung handelt, gibt änd-Kolumnist Dr. Matthias Soyka zu bedenken. Ist es trotzdem ratsam dieses Geschenk anzunehmen, oder sollte man es lieber zurückweisen?

Soyka: „Kompliziert kann es nur dann sein, wenn man versuchen würde, die Mehrausgaben, die eine Entbudgetierung mit sich bringt, irgendwo anders wieder einzusparen. Und die Hinweise verdichten sich, dass genau das der Pferdefuß am letzten Wahlgeschenk der Ampel ist.“
Vor über 3000 Jahren standen die Trojaner vor einer ähnlich schweren Entscheidung. Sollten sie das unerwartete Geschenk, das man vor ihre Stadttore gestellt hatte, annehmen oder nicht. Bekanntlich machten sie keine guten Erfahrungen.
Was kann man aus ihrem Fall lernen?
Das Trojanische Pferd
Das Trojanische Pferd ist der Archetypus des perfekten Betruges, die Falle, in die man nicht tappt, sondern die man sich sogar selbst ins Haus holt. Nicht nur die klassische humanistische Bildung kennt den von Homer beschriebenen Trick. Das Trojanische Pferd ist eine Metapher, die auf der ganzen Welt verstanden wird. Und sie ist immer noch aktuell. Als „Trojaner“ oder in der Sonderform des „Staatstrojaners“ bezeichnet es ein Schadprogramm, das der Computernutzer auf der Jagd nach wohlfeilen Apps oder Programmen sich selbst auf den Rechner lädt.
Worum geht es in der Geschichte? Nach zehnjährigem Krieg um Troja zogen die Griechen von den Gestaden der belagerten Stadt ab und hinterließen das vorgebliche Geschenk, ein riesiges Holzpferd, in dessen Innerem sich die besten Kämpfer der Griechen versteckten. Nach langen Diskussionen verbuchten die Bürger Trojas den Abzug der Griechen als großen Erfolg und zogen das Pferd in die Stadt hinein, wozu sie nach Ansicht einiger antiker Autoren auch Teile der Stadtmauer einrissen. Wie jeder weiß, endete das in der kompletten Vernichtung der Stadt.
Klassische Sagen – hochaktuell
Die Metapher des trojanischen Pferdes wird von vielen Ärzten auf die angebliche Entbudgetierung angewandt und sie haben einige Argumente auf ihrer Seite. Schon früh warnte der Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung vor Problemen bei der Umsetzung. Möglicherweise ist dadurch erst manchem Kollegen aufgefallen, dass die Sache nicht ganz so rosig aussieht, wie man sie sich zunächst ausgemalt hat.
Denn der Wegfall eines Budgets wäre technisch ziemlich einfach zu bewerkstelligen. Alle Leistungen, die bislang nicht bezahlt wurden, würden ab sofort in Euro und Cent beglichen. So einfach wäre Entbudgetierung.
Dadurch entstünden natürlich Mehrkosten für diejenigen, die diese Leistungen bezahlen, also die Krankenkassen.
Nichts daran ist kompliziert und verglichen mit den exorbitanten Verwaltungskosten der Krankenkassen wäre die zusätzlich zu bezahlende Summe durchaus überschaubar.
Die Wahrheit ist meist einfach
Kompliziert kann es nur dann sein, wenn man versuchen würde, die Mehrausgaben, die eine Entbudgetierung mit sich bringt, irgendwo anders wieder einzusparen.
Und die Hinweise verdichten sich, dass genau das der Pferdefuß am letzten Wahlgeschenk der Ampel ist.
Zwar hat das Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz wie viele Gesetze zuvor, einen schönen, euphemistischen Namen und es wird darin auch explizit verkündet, dass hausärztliche Leistungen in Zukunft „ohne Begrenzung“ bezahlt werden, „wenn neue Patientinnen und Patienten in den Praxen aufgenommen oder wenn bei Patientinnen und Patienten mehr Leistungen als bisher erbracht werden.“ Lt. BMG sei das analog zu dem Verfahren bei den Kinderärzten.
Doch die Falle könnte darin liegen, dass zeitgleich mit der Entbudgetierung eine Vorsorgepauschale und eine Vorhaltepauschale eingeführt wird. Auch das sind Wunschprojekte des Hausärzteverbandes. Aber es ist immer gefährlich, wenn mehrere Regelungen gleichzeitig verändert werden. Durch das Drehen an den verschiedenen Stellschrauben geht die Übersicht leicht verloren. So könnte man übersehen, oder es für irrelevant halten, dass auch die neuen Pauschalen eben eine Pauschalisierung und damit eine Form der Budgetierung darstellen. Allerdings ist dieses „Budget“ fix, wird also zu einem festen Preis bezahlt.
Das ist in der Tat ein Fortschritt. Viele Kollegen sind damit schon zufrieden und hoffen insgeheim, dass Kassen und Politiker hinter diese Aufhebung der Budgets „nicht mehr zurückkönnen“.
Sie sollte aber stutzig machen, dass in dem neuen Gesetz folgender Passus steht:
„Die Regelungen (…)sind so auszugestalten, dass sie weder zu Mehrausgaben noch zu Minderausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung führen.“
Wie soll das funktionieren? Da die Pauschalen einen Anreiz darstellen sollen, muss man erwarten, dass dieser Anreiz auch genutzt wird, wodurch die Pauschalen häufiger abgerechnet werden dürften. Wenn die Pauschalen zu 100 %, also ohne Abstriche, ausbezahlt werden, führt Mengenausweitung zu Mehrausgaben. Unter der Prämisse der Ausgabenneutralität ist daher zu erwarten, dass die Mengenausweitung antizipiert und die Pauschalen ziemlich niedrig angesetzt werden. Dann könnte die Rechnung später mit etwas Glück gerade „ohne Mehr- und Minderausgaben“ aufgehen.
Verdünnerscheine zu Monochronikern
Doch für die Empfänger des Geldes, also die Leistungserbringer, ändert sich trotz des vorgeblichen Nullsummenspiels eine Menge.
Denn sie erhalten zwar das gleiche Geld wie vorher, allerdings um den Preis, dafür ihre Sprechstundenorganisation und ihre Arbeitszeit weitgehend umzugestalten.
Die Versorgerpauschale schafft nach der Lesart des BMG „Anreize, das System von überflüssigen Terminen und Wartezeiten zu entlasten und freie Kapazitäten zu schaffen.“
Es geht also nicht darum, es den Hausärzten etwas bequemer zu machen.
Patienten, die eigentlich nur einmal im Quartal kamen, liefen früher unter der Bezeichnung „Verdünnerscheine“. Selbst die Politik führte diese „Verdünnerscheine“ immer wieder ins Feld, um deutlich zu machen, dass Ärzte nicht nur schwierige Fälle behandeln, sondern auch einige einfache. „Mischkalkulation“ war das Stichwort.
Jetzt müssen die Hausärzte ziemlich aufpassen, dass aus der Umwidmung der Verdünnerscheine in „Monochroniker“ nicht eine weitere Verdichtung ihrer Arbeit resultiert.
Vorhaltepauschale
Ganz sicher wird es bei der Vorhaltepauschale so laufen. Denn das BMG verbindet diese mit der Vorstellung, dass „damit () Hausärztinnen und Hausärzte auch umso besser vergütet werden, je mehr Voraussetzungen sie erfüllen, wie zum Beispiel bedarfsgerechte Praxisöffnungszeiten oder ein bedarfsgerechtes Angebot von Haus- und Heimbesuchen.“.
Unter der Prämisse der Kostenneutralität kann das nichts anderes bedeuten, dass die volle Pauschale nur diejenigen erhalten, die alle Anforderungen erfüllen. Zu diesen Anforderungen werden Hausbesuche und Heimbesuche ebenso gehören wie Samstags- und Abendsprechstunden, das fleißige Befüllen der EPA nicht zu vergessen.
Es wird daher zu einer Umverteilung innerhalb der Hausärzte kommen. Diejenigen, die alle Anforderungen akzeptieren, werden ein kleines Plus erhalten. Diejenigen, die einfach nur ihre Arbeit wie gewohnt verrichten wollen, werden weniger verdienen. Für ein kleines Zubrot wird eine große Menge Mehrarbeit etabliert werden. Große Praxen oder MVZ werden dabei noch im Vorteil sein, denn sie können die lästigen Zusatzsprechstunden auf mehrere Schultern verteilen.
Aber auch hier bedenken viele Optimisten nicht, was passiert, wenn Alle sich plötzlich den Anforderungen unterwerfen, und zum Beispiel Samstagssprechstunden anbieten. Wie soll bei der zu erwartenden (und gewünschten) Leistungsausweitung die eingeforderte Kostenneutralität erreicht werden?
Trügerische Erfolge
Es scheint mehr als vertrackt, aber die Zeichen deuten darauf hin, dass die unter dem Label „Entbudgetierung“ gefeierten Veränderungen, die Beschenkten auf Dauer nicht glücklich machen.
Die Abschaffung der Budgets ist schon allein aus prinzipiellen Gründen wichtig. Doch finanzielle Vorteile bringt sie im Hausarztbereich nur in den KVen, die vorher unter den Budgets litten, wie die in Hamburg, Berlin und Bremen. Alle anderen müssen hoffen, dass sie die Neuregelungen im Gepäck der Entbudgetierung halbwegs unbeschadet überstehen.
Könnte es nicht sogar so sein, dass die „Entbudgetierung“ nur deshalb so lange gedauert hat, weil es eben Zeit braucht, sich den Weg zu überlegen, wie man die Ausgaben, die man auf der einen Seite „großzügig“ gewährt, auf der anderen Seite wieder hereinholt? Zumal bei der Gelegenheit noch möglichst viele neue Verpflichtungen wie Samstags- oder Abendsprechstunden eingeführt werden sollten.
Will das gerade überhaupt irgendjemand hören?
Timeo danaos et dona ferentes
„Ich fürchte die Griechen, auch wenn Sie Geschenke bringen“ warnte der Trojanische Weise Laokoon. So beschreibt es jedenfalls Vergil in seiner Äneis, in der er die Geschichte als Römer vom Standpunkt der Trojaner neu erzählt. Doch schon Laokoon wurde von seinen Landsleuten nicht gehört. Doppeltes Pech: Die den Griechen verbundene Göttin Pallas Athene ließ ihn zusammen mit seinen beiden Söhnen von Schlangen erwürgen. In den vatikanischen Museen kann man das Schauspiel angesichts der berühmten „Laokoongruppe“ immer noch bewundern. Die Schlangen winden sich um eine Gruppe von drei Menschen (übrigens genau so viel wie der KBV Vorstand).
Warum will man dem Trug glauben?
Wie kommt es, dass Menschen auf trügerische Geschenke hineinfallen, ja sogar unbedingt hineinfallen wollen?
Auch hierauf gibt die alte Sage Auskunft: Mehr als 10 Jahre tobt der Kampf um Troja. Die Menschen in der Stadt sind erschöpft. Keiner hat mehr Hoffnung, dass die Sache gut ausgehen könnte. In dieser Situation ist das Ende der Kampfhandlungen verbunden mit dem unerwarteten Geschenk eine große Versuchung. Die Würdenträger (heute würde man sagen „die Funktionäre“) können den vorgeblichen Sieg über die Griechen als Erfolg ihres jahrelangen Kampfes verbuchen. Mögliche kritische Nachfragen gelten als Frevel an den Göttern. Ob Kassandra oder Laokoon – es geht nicht gut für sie aus.
Fazit
Eine Entbudgetierung und neue Pauschalen, die keine Mehrkosten verursachen sollen – hört sich das nicht nach einem klassischem Danaergeschenk an?
Das Muster ist bekannt, ob Entbudgetierung oder auch die neue GOÄ, die bis zu 30 Prozent Einbußen bringen wird. Es wäre nicht das erste Mal, dass Ärzte sich selbst die Grube graben, in die sie dann hineinfallen.
Der glorreiche EBM 2005 ist noch in guter Erinnerung. Große Hoffnungen und wunderbare Versprechen gingen ihm voraus. Erstmals sollte betriebswirtschaftlich korrekt die Einnahmen der Praxen bestimmt werden. Dumm nur, dass der mühsam errechnete „Punktwert“ von der Politik kurzer Hand einkassiert wurde und so das gleiche Honorar – aber mit mehr Aufwand – erzielt wurde. Anlass zur Warnung und zur Vorsicht gibt es also durchaus.
Timeo danaos
„Ich fürchte die Griechen“. Das könnte man heute ein Vorurteil nennen. „Aber in Vergils Äneis drückt es große Weisheit aus. Laokoon kennt seine Pappenheimer, also die Griechen. Er bezieht sich auf frühere negative Erfahrungen und zeigt damit, dass er in der Lage ist, aus der Vergangenheit zu lernen: Oft schon sind die Trojaner auf die Listen ihrer Belagerer hereingefallen. Diesmal – so sagt es der Weise – sollten sie daraus lernen und vorsichtiger sein.
Viele Ärzte, vor allem aber viele ihrer Würdenträger, scheinen diese Lehren nicht ziehen zu wollen. Zu stark sind die oben beschriebenen psychologischen Mechanismen. Und natürlich geht es auch um das eigene Fremd- und Selbstbild.
Doch wenn man Eitelkeiten einmal wegließe und es unbefangen sähe, könnte man zu dem Schluss kommen, es wäre besser, die Geschenke der Danaer etwas genauer zu prüfen.
Ich habe schon als Schüler beim Lesen von Schwabs „Sagen des klassischen Altertums“ nicht verstanden, warum die Trojaner das Holz nicht einfach einmal anbohrten. Das wäre doch wirklich nicht so schwer gewesen.