Da wo Politik über die Köpfe (und gegen die Interessen) der Vertretenen gemacht wird, und wo Abschottung und Heimlichkeit die offene Debatte verhindern soll, da schlägt die Stunde der Whistleblower. Dass aus der katastrophalen GOÄ-Novelle so lange Zeit ein Staatsgeheimnis gemacht werden konnte, ist schon eine bemerkenswerte Leistung der Geheimniskrämerei. Doch damit scheint es jetzt vorbei zu sein. Immer mehr der zum Schweigen verpflichteten Illuminati bereuen inzwischen diesen Akt der falsch verstandenen Loyalität.

Soyka: „Liebe Bundesärztekammer, geben Sie die geheimen Entwürfe frei!“
Daher sickern in den letzten Tagen immer mehr Informationen aus den inneren Funktionärs-Zirkeln durch. Schön, dass auf diese Weise auch ich die Gelegenheit bekam, einen Blick in den Entwurf werfen zu können.
Dieser bestätigte die schlimmsten Vermutungen und erklärt auch, warum so viel Wert auf Geheimhaltung gelegt wird. Es stellt sich nämlich die Frage, ob es bei der geplanten GOÄ-Novelle überhaupt irgendeinen Gewinner auf der Arztseite gibt.
Das Missverständnis: Verwechslung von Volumen und Preisen
Es beginnt mit einem großen Missverständnis, dem viele Kollegen aufsitzen. Viele, mit denen ich sprach, glauben, die in der neuen GOÄ genannten Preise würden jährlich um 4,25 Prozent steigen. Doch das ist keineswegs so.
Das Gesamtvolumen der für PKV und Beihilfe erbrachten Leistungen darf drei Jahre lang im Jahr um 4,25 Prozent steigen, nicht die Preise für die Leistungen! Das Volumen ist das Produkt aus den Preisen und der Leistungsmenge.
Das Gesamtvolumen steigt jetzt aber schon um 3,85 Prozent jährlich, weil die Leistungsmenge steigt. Weil die Privatversicherungen Angst vor einer Mengenausweitung haben, besteht die Prämisse des neuen GOÄ-Entwurfs darin, den Anstieg der Menge und damit das Gesamtvolumen der Leistungen zu begrenzen.
Nach drei Jahren soll das BMG die Auswirkungen der GOÄ-Novelle prüfen. Dann kommt es zu einer Anpassung der Preise – und zwar mit großer Wahrscheinlichkeit nach unten.
Denn die jetzt festgelegten Preise sollen nach drei Jahren gekürzt werden, wenn der Zielkorridor von 4,25 Prozent in den drei Jahren überschritten wird, also die Gesamtsumme der Privatleistungen sich um mehr als 4,25 Prozent erhöht. Es ist daher das genaue Gegenteil dessen, was die Optimisten erhoffen. Unsere Preise steigen nicht, sie werden auf Dauer sinken, wenn die Leistungsmenge steigt.
Privatbudget ist schlimmer als GKV Budget
Es gäbe damit auch im Privatbereich eine budgetierte Leistungsmenge. Dieses Privatkassen-Budget wäre sogar noch viel schlimmer als das Budget in der GKV.
Denn es fehlt im Privatbereich jede Steuerung der Leistungen. Es gibt keine KV und keine Qualitätssicherung, keine Bedarfsplanung und keine Zulassungsbeschränkung.
Das heißt auch, dass es keinerlei Bremse für eine mögliche Leistungsausweitung gäbe. Der einzelne Arzt hat daher ebenso wie die Gesamtheit der Ärzte keinerlei Einflussmöglichkeiten, übertriebene Leistungsausweitungen durch andere einzugrenzen.
Privatmedizin und Budget: das Ende des freien Arztberufes
Und das ist im Übrigen auch gut so. Denn gäbe es Steuerungsmechanismen wie im KV-Bereich auch bei der Privatmedizin, wäre die Freiheit des Arztberufes restlos perdu.
Es ist konstitutionell für die private Behandlung, dass jeder Arzt Privatpatienten behandeln können muss. Das heißt aber leider auch, dass jeder Klinikkonzern über seine angestellten Ärzte privat abrechnen kann. Er könnte z.B. schlecht laufende Rehakliniken auch für Privat-Ambulanzen öffnen.
Jede Form der Budgetierung im privaten Bereich ist unvereinbar mit dem freien Arztberuf, weil jede Budgetierung über kurz oder lang zu einer Zulassungsbeschränkung führen wird.
No way out
Umgekehrt kann man wegen des Fehlens von Zulassungsbeschränkungen und Mengensteuerung sicher davon ausgehen, dass die Zielwerte für das PKV-Volumen überschritten werden und dann die Preise der GOÄ gesenkt oder zumindest nicht mehr erhöht werden – egal, wie hoch die Inflation ist.
Weil die neue GOÄ keine Ausweichmöglichkeiten mehr erlaubt, werden Ärzte auch nicht mehr durch eine freie Vertragsgestaltung, durch Abdingung, durch Erhöhung der Faktoren oder ähnliche Maßnahmen die Inflation kompensieren können.
Das gilt, wie man im folgenden Abschnitt sehen kann, vor allem für aufwendige Gesprächsleistungen.
Vor allem für Patienten, die nicht bei PKV oder Beihilfe versichert sind, hat das Konsequenzen. Der normale Kassenpatient, der eine besondere Behandlung wünscht, wird diese unter der neuen GOÄ oftmals nicht mehr erhalten können. GKV Patienten, die mehr wollen, haben nicht mehr die Möglichkeit, aufwendigere Behandlungen zu erhalten. Sie müssten dafür ins Ausland fahren, ihre Ärzte müssten hinterherziehen…
Noch gravierender: Neue Therapiemethoden werden es extrem schwer haben, sich durchzusetzen. Denn auch Analogziffern sind praktisch verboten – eine gigantische Innovationsbremse!
Neue GOÄ-Ziffern – eine kleine Auswahl
Doch Probleme wird es nicht erst in der Zukunft geben. Sie sind schon von Anfang im neuen Leistungsverzeichnis enthalten.
Vor allem der zweite Blick auf die folgenden Gebührennummern lässt einen schwindlig werden. Ich gebe bei allen Preisen die Nachkommastellen nicht an, um meine Quelle zu schützen.
- Es beginnt schon damit, dass Kleinmaterialien nicht als Sachkosten abgerechnet werden können und dass Befundberichte, die keine großen Romane sind, „mit der Leistung abgegolten“ sind.
- 1 – Es gibt weiter die 1 als kurze Beratung bis zehn Minuten. Dafür gibt es jetzt satte 14,XX Euro.
- Eine Steigerung ist nicht möglich wie in der gesamten neuen GOÄ.
- 2 – Je vollendete zehn Minuten dürfen 21,XX Euro abgerechnet werden. Am Tag sogar bis zu fünfmal, die genaue Dauer ist auf der Rechnung anzugeben. Die neue 2 mag man vielleicht für einen Fortschritt gegenüber der alten 3 halten. Aber hier wird auch deutlich, wie der Preis für eine Arztstunde in der neuen GOÄ kalkuliert wird (nicht zu verwechseln mit dem Stundenlohn, der ist viel niedriger). Danach geht die GOÄ-neu von einem Stundensatz von 126 Euro aus. Welche Rechtsanwälte oder Architekten würden sich auf diese Sätze einlassen?
- Dieser Stundensatz findet sich mit Mini-Abweichungen in dem gesamten Entwurf wieder.
- Beispielsweise 106 (Anamnese und Intervention im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung) bringt für vollendete zehn Minuten 21,XX Euro – Steigerung nicht möglich.
- 104 (Eingehende Humangenetische Beratung, mehr als 20 min): 46,XX Euro
- 108 (Eingehende Beratung über Erhalt oder Abbruch einer Schwangerschaft): 53,XX Euro. Keine Steigerung möglich, keine weiteren Gesprächsleistungen.
- 8 (Reisemedizinische Beratung durch den Arzt): je vollendete zehn Minuten 21,XX Euro.
- 9 (Erhebung einer ausführlichen Erstanamnese): Die gute alte homöopathische Erstanamnese ist jetzt (neben TCM, Anthroposophie etc.) auch für Schmerztherapeuten möglich, die sich damit über die Verluste bei ihren Injektionen und der TLA hinwegtrösten können. Diese Leistung bringt 128,XX Euro.
- 14 (Die symptombezogene Untersuchung), entsprechend der alten 5, bringt 14,XX Euro. Eine Steigerung, wie oft in Hausarztpraxen bei Untersuchungen für Atteste für Fitnessstudios verwandt, ist nicht möglich.
- 16 ersetzt für einige Fachgruppen die alte 6 oder 7 und bringt nur 18 Euro, also deutlich weniger als die 3,5-fach gesteigerte 7. Das dürfte sich vor allem in der Abrechnung von Spezialfällen in der Selbstzahlermedizin auswirken. Viele Patienten werden in diesen Bereichen die gewünschten Untersuchungen nicht mehr erhalten. Das betrifft: HNO, Auge, Gefäße und Urologie. Die komplette Untersuchung von Prostata, Hoden und Nebenhoden sowie Bruchpforten ist in diesem Preis inkludiert.
- 17 entspricht der 7 für die Haut, den Bewegungsapparat, Herz und Lunge; der Mammae, der Bauchorgane und des inneren Genitale. Hierfür gibt es 25,XX Euro. Also auch hier weniger als der 3,5-fach gesteigerte Satz der bisherigen GOÄ. Wie will man bloß für komplexe Fälle hier eine angemessene Honorierung vereinbaren? Denn Steigerungssätze sind verboten.
- 26 (Beurteilung der Auswirkungen diagnostizierter Erkrankungen auf die Lebensgestaltung), nur bei multimorbiden Patienten, die über einen Zeitraum von mindestens 28 Tagen mindestens fünf verordnete Medikamente nehmen. Nicht zusammen mit Hausarztbetreuungspauschale. Wenn das alles zutrifft, darf man es einmal im halben Jahr mit 41,XX Euro berechnen.
- 33 (Erstanlage Datensatz persönlicher Erklärungen (Patientenverfügung etc)) bringt 4,XX Euro. Von einem Hausarzt hörte ich, dass er dafür bislang über 30 Euro berechnet.
- 34 (Aktualisierung dieses Datensatzes): 2,XX Euro
- 111 (Krebsfrüherkennung bei der Frau inkl. allem – Anamnese, Befund, Abstrich, Blut im Stuhl): 61,XX Euro
- 112 Krebsfrüherkennung beim Mann: 53,XX Euro
- 200 (Visite im Krankenhaus): Dann sind andere Leistungen des Kapitels B, also Untersuchungen und Beratungen, nicht abrechenbar.
- 207 (Konsiliarische Erörterung) entspricht der alten 60. Jetzt ist sie aber nur noch mit „persönlichem Kontakt“ möglich, außer in akut lebensbedrohlichen Fällen. Auch ein Konsil in der selben Fachgruppe gilt nicht mehr als solches. Auch nicht der zwischen Operateur und Pathologe in Zusammenhang mit einer Operation. In den wenigen Fällen, in denen sie noch abzurechnen sein wird, bringt diese Nummer 25,XX Euro.
- 300 Kurze Bescheinigung oder Zeugnis: 6,XX Euro (alte GOÄ: 5,36 Euro)
- 301 (Ausführlicher Befundbericht) entspricht der alten 75 und bringt 15,XX Euro
- 302 ist ebenfalls ein Befundbericht mit Epikrise etc., also etwas ausführlicher als 301, bringt mit 30,XX Euro etwas mehr als die mit 3,5-gesteigerte 17 von 1996
- 307 (schriftliche gutachtliche Äußerung): Das wird die Form der gutachterlichen Äußerung sein, die das Gros ausmachen wird, z.B. bei Reiserücktrittversicherung, Unfallversicherung. Diese erbringt weniger als 1996, nämlich 40,XX Euro
- 308 ist die besonders ausführliche Befunderbringung, die dann auch länger als 30 Minuten dauern wird. Sie erbringt 65,XX Euro. Normale Befundberichte werden also billiger. Da werden sich die Versicherungsgesellschaften freuen.
- 2900 (EKG), mindestens zwölf Ableitungen, inklusive Pulsoxy und Vektorkardiographie: 29,XX Euro
- 20903 (Belastungs-EKG): 62,XX Euro
- 1000 Schutzimpfung mit Injektion: 14,XX Euro
- 1226 (Sonographie des Harntrakts, nicht zusammen mit 1230 – Prostatasono – berechenbar):
50,XX Euro ohne Steigerungsmöglichkeit - 1227 (Sonografie des weiblichen Beckens): 50,XX Euro ohne Steigerungsmöglichkeit
- 2025, 2026 sind Osteopathieziffern (ab 10 Minuten). Die Osteopathen könnten sich freuen, wenn diese Ziffer nicht mit schlappen 22,XX Euro berechnet würde. Die meisten Osteopathen, die diese Therapie auch im IGEL-Bereich anwenden, dürften bislang höher abgerechnet haben.
- 4215 (Chirotherapie an einem Wirbelsäulenabschnitt, nur 3-mal im Krankheitsfall): 23,XX Euro
- 4300 (Neurologische Untersuchung von drei Bereichen): 29,XX Euro
- 4301 (Neurologische Untersuchung von fünf Bereichen): 40,XX Euro
- Die Berechnungen von Ratings, Skalen und Scores sind darin schon enthalten.
Soweit der erste Überblick über ausgesuchte Nummern des aktuellen GOÄ-Entwurfs. Er stimmt nicht euphorisch. Wenn eine Ziffer, die jetzt Nummer heißt, einmal besser bewertet wird als 1996, ist sie mit vielen Einschränkungen versehen und nicht zu steigern, sodass komplizierte Fälle nicht mehr kostendeckend behandelt werden können.
Ich bin kein Abrechnungsspezialist, da gibt es Berufenere als mich. Diese Liste habe ich am Samstagvormittag beim letzten schönen Sommerwetter zusammengetragen – nach bestem Wissen und Gewissen. Ich hoffe, sie vermittelt einen ersten Eindruck vom Leistungsverzeichnis des neuen Entwurfs. Sollte es aus den Reihen der Bundesärztekammer Kritik an meiner Darstellung geben, oder sollte jemand der Meinung sein, meine Liste würde einen falschen Eindruck vermitteln, so gibt es ein einfaches Mittel, diesen Eindruck zu korrigieren:
Liebe Bundesärztekammer, geben Sie die geheimen Entwürfe frei und der Ärzteschaft ein Quartal – oder wenigstens vier Wochen – Zeit, sich in einer transparenten Debatte darüber eine Meinung zu bilden.